Heute morgen war die Sonne weg und ein sturmartiger Westwind gab die Richtung vor. Ich wollte sowieso weiter nach Osten, klar war aber auch dass der Wind den Regen heranblies.

Ich rollte entlang der Steilküste nach Toila und näherte mich damit einer Gegend welche im Frühjahr 1944 heftig umkämpft war und viele Zigtausend Tote auf allen Seiten gesehen hat. Der exzellent gepflegte deutsche Soldatenfriedhof am Rande des riesigen Parks in Toila, auf welchem rund 10000 deutsche Männer zwischen 18 und 35 Jahren liegen, hat mich mächtig traurig gestimmt. Am Narvaufer kurz vor der Stadt Narva ist ebenfalls noch ein riesiger deutscher Friedhof, der schon 1943 von der Wehrmacht benutzt wurde und heute von der Deutschen Kriegsgräberfürsorge liebevoll gepflegt wird.

Das sollte eine ganze Weile so bleiben, zumal es heftig zu regnen begann und ich später eine ganze Reihe von Gedenkstätten zur Erinnerung an die Schlachten rund um Narva passierte.

Im Läufe des Nachmittags erreichte ich die Mündung der Narva in den Finnischen Meerbusen und einen Steinwurf entfernt liegt das russische Ufer, welches nach dem Krieg bis zur Wende keine wirkliche Grenze war. Heute stellt es in der Tat eine EU-Außengrenze dar. Diesen nordöstlichsten Punkt meiner Tour begoss ich mit einem großen Wodka, der mir für einige Kilometer ganz schön in die Beine fuhr.

Ab Toila bin ich heute quasi in der Gegenrichtung auf dem Europaradweg R 1 gefahren, der von Sankt Petersburg via Berlin nach Boulogne-sur-Mer führt. Zunächst bin ich einem österreichischen Pärchen begegnet mit Ziel Berlin und später noch vier Berlinern im strömenden Regen, die auf meine Frage „wohin“ nur nach Hause antworteten, da liegen allerdings noch etliche Kilometer dazwischen.

In der Tourist-Info in Narva traf ich drei Jungs aus London, die mit wenig Gepäck und schnellen Rädern 3500 km von London über Berlin hier in Narva auf die letzte Etappe bis Sankt Petersburg gehen (150 km). Zu Beginn der Olympiade wollen sie wieder in London sein (allerdings nicht mehr mit dem Rad).

Diese Begegnungen und die kurzen Gespräche über Routen und Wege auf Europas Straßen sind immer wieder willkommen und stellen eine zusätzliche Motivation dar. Beim Einchecken im Hotel gab es noch einen netten Austausch mit einigen Jugendlichen aus Sankt Petersburg, die zu einem Eishockey-Trainingslager hier in Narva sind und meinen vollgepackten „Blauen Elefanten“ bestaunten.

Über den Fluß hinüber liegt Iwangorod und die Grenze nach Russland. Hier in Narva ist die Bevölkerung überwiegend russisch und was ich so an Wohnblöcken gesehen habe ist erschreckend, da sind die Wohnblöcke in AB-Damm als gerade luxuriös zu bezeichnen. Der absolute Tiefpunkt war das Durchfahren der ehemals „Geschlossenen Stadt“ Sillamäe, das war das Uranzentrum der UdSSR und jahrzehntelang auf keinen Landkarten vorhanden.

Morgen geht es in grober Richtung nach Südosten. Das Ziel in einigen Tagen heißt Tartu, das ehemalige Dorpat, die zweitgrößte Stadt hier in Estland. Allerdings muss ich morgen früh erstmal rund 50 km auf der Hauptroute der E 1 nach Westen zurückfahren, ehe ich dann Richtung Peipussee abbiegen kann. Na ja, vielleicht ist der Westwind von heute morgen mein Freund.